Freitag, 24. November 2006

Verdichtetes Leben

Die Psalmen sind wie das Leben. Sie führen aus einem Tal der Tränen hin zum universalen Lobpreis Gottes. Und zugleich sind sie eine Schule des Betens. Wie immer sich unser Beten im Leben verändert, immer finden wir uns auf einer Stufen zwischen dem ersten und letzten Psalm wieder, beginnen wir klein nur mit einem Bitten, um Hilfe in Bedrängnis enden wir am Ende eines erfüllten Lebens im jauchzendem Lobpreis.

"Schon oft habe ich gedacht: Wenn ich je ins Gefängnis kommen, wenn ich je Hunger, Schmerz, Folter oder Demütigung erleiden sollte, dann hoffe und bete ich, dass man mir die Psalmen läßt. Die Psalmen werden meinen Geist lebendig halten, die Psalmen werden mir Kraft geben, andere zu trösten, die Psalmen werden sich als die stärkste, ja revolutionäre Waffe gegen die Bedrücker und Peiniger erweisen. Wie glücklich sind jene, die keine Bücher mehr brauchen, sondern die Psalmen im Herzen tragen, wo immer sie gehen und stehen. Vielleicht sollte ich damit anfangen, die Psalmen auswendig zu lernen, damit sie mir niemand mehr wegnehmen kann." (erkannte Henri J.K. Nouwen, als er sich einige Monate in ein Trappistenkloster zurückzog).
Psalmen beten ist ein großes Wunder.

Wer den Psalm zu seinem Gebet macht, hofft auf das Wunder, das der 18. Psalm in einem Bild so wunderschön zusammenfasst: "Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen" (Ps 18,30). Der Gott der Psalmen gibt mir die Kraft Mauern, Ängste, Feindschaften zu überwinden, aber nicht mit Gewalt, mit den Kopf durch die Wand, nein, sondern mit dem Gott der Güte und Gerechtgikeit geschieht mir das Wunder, dass das Böse mich nicht mehr einengen und abschrecken kann. Mit meinem Gott packe ich an, wovor ich, auf mich allein gestellt, zurückweichen würde. Mit Gott gelingt das Wunder des Exodus.
Wer in seinen Ängsten und Nöten nach den Psalmen greift, wird von seiner Einsamkeit, Lebensangst oder Selbstbezogenheit befreit. Nicht nur, weil man sich selbst zurück nimmt, in dem man Gebete rezitiert, die andere vor uns schon gebetet haben, sondern weil man sich so in seinen Dunklen Qualen und Gefahren dem menschenfreundlichen Gott entgegenstreckt.

Wohin soll ich mich wenden?

Wie könnte ich noch ein Wort verlieren ob solcher Qualen der inneren Zerissenheit die mein Leben durchschreitet. Wie könnte ich noch ein Wort verlieren kraft solcher Worte, die ja sagen, was ich meine. Mir entgleitet der Boden unter den Füßen.

Das Ziel ist bekannt, der grauen Unerträglichkeit und angestrengten Banalität des vorfindbaren Alltagslebens zu entrinnen, vielmehr der Aufstand gegen die Banalität eines unerträglich werdenden flachen, eindimensionalen Lebens. Doch der Weg ist uneins.

Das ganze Dasein ist stets durchzuckt von „désir“, purer und maßloser Sehnsucht, durch Raum und Zeit nicht begrenzt, alle Bereich des Lebens durchdringend. Mit diesem einzigen Wort fast Lacan den ganzen Menschen. Nur staunend macht mich diese Deutlichkeit. GOTT ist es, der das geheimnisvolle Ziel unserer/meiner Lebenssehnsucht ist und je mehr ich mein Leben "bete", bete ich es hin zu Gott. "Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in Dir." (Augustinus.)

Ich weiß um die konkreten Wege zu Befriedung meiner Sehnsucht, doch mit ihnen gehen zugleich „manque“ einher: Mangel, Entbehrungen. Wohin soll ich mich also wenden?

Gott, mein Gott bist du, ich suche dich.
Es dürstet nach dir meine Seele.
Es schmachtet nach dir mein Leib,
im Land der Dürre, des Ermattens, ohne Wasser.
(Ps 63)

Dein Angesicht, IHWH, suche ich.
Verbirg dein Angesicht nicht vor mir.
Dein Angesicht zu schauen ist mein Glück.
(Ps 27)

Sonntag, 19. November 2006

Wie Gott die Menschen lieben - Hl. Elisabeth

Aus dem gemeinsamen Hirtenbrief der Bischöfe Heinz Josef Algermissen (Bistum Fulda) und Joachim Wanke (Bistum Erfurt) zum Elisabethjahr 2007:


"Was an der Hl. Elisabeth bis heute fasziniert, ist die ungewöhnliche Perspektive, mit der sie auf die Menschen schaut. Sie durchbrach in ihrem Denken, Urteilen und Verhalten Standesschranken ihrer Zeit. Sie schaute gleichsam mit den Augen Gottes auf die ihr anvertrauten Menschen.
Beim Sehen kommt es in der Tat auf die Perspektive an. Die Hl. Elisabeth war eine Frau mit einer ungewöhnlichen Perspektive. Sie war vom Evangelium angerührt, von der Botschaft Jesu vom Gottesreich, das in seiner Person schon jetzt unter uns angefangen hat.

Wer dem Evangelium traut, sieht manche Dinge anders. Er fängt z.B. an, in den Armen nicht nur ein soziales Problem zu sehen, sondern den gegenwärtigen Christus, wie uns der Herr selbst aufklärt. Denken wir an das große Gleichnis vom Endgericht (Mt 25, 31-46), dessen Pointe darin besteht, dass man in den Kleinen und Geringen – bewusst oder unbewusst – Christus dient.
Jesu Zuwendung zu den Kranken und Armen bezeugt nicht allein gesellschaftskritische Sensibilität. Sie ist ein direkter Ausfluss seiner Sicht Gottes. Vor Gott sind die Armen groß. Armut ist nicht zuerst ein sozialer Zustand, sondern eine Lebenshaltung. In denen, die bereit sind, alles von Gott zu empfangen, erkennt sich Jesus wieder. Solche Menschen sind Geist von seinem Geist, sie sind die „Anbeter im Geist und in der Wahrheit“, wie das Johannesevangelium sagt (vgl. Joh 4,23).

Jesus hat uns Gott neu sehen gelehrt. Jesu Leben, sein Verkünden und sein Handeln bezeugen, wie sehr er sich dem Vater im Himmel verdankt weiß. Er will uns anstiften, die „kostbare Perle“, den „reichen Schatz“ (vgl. Mt 13, 44-46) zu entdecken, um dessentwillen es sich lohnt, alles hinzugeben. Das Reich Gottes, als dessen Verkünder er sich versteht, ist ja letztlich Gott selbst, seine gnädige Herrschaft, sein Erbarmen, das die Sünde und den Tod als Herrschaftsmächte abgelöst hat. Wer sich als Reich-Gottes-Anwärter weiß, gewinnt einen neuen Horizont, schaut auf die Welt aus einer neuen Perspektive. Er taucht gleichsam in Jesu Lebensart ein und fängt an, die vielen Dinge „loszulassen“, die das Herz besetzen und den Lebenshorizont eng machen. Er weigert sich, alles nur noch unter dem Aspekt käuflicher Ware wahrzunehmen. Er gewinnt eine neue Weite, die ungläubige Zeitgenossen immer wieder zum Staunen bringt.

In dieser überraschenden Weite besteht das Geheimnis der Heiligen. Es geht bei Elisabeth nicht vorrangig um Nächstenliebe als Nächstenliebe. Natürlich geht es auch darum. Wir können so sagen: Nächstenliebe ohne Nachfolge Jesu ist eine Tugend. Nächstenliebe um Jesu willen und in seiner Nachahmung ist – Gottesverehrung. Das Handeln des Glaubenden wird dann zu einer Antwort, die nicht allein den Bedürftigen als solchen im Blick hat, sondern in ihm Gott selbst, dem unsere Lebenshingabe gilt.

Elisabeth ist nur zu verstehen, wenn man ihre Christusfrömmigkeit als Quellgrund ihrer Menschenfreundlichkeit zu würdigen weiß. Die Entschiedenheit, mit der Elisabeth den Weg der Christusnachfolge ernst nahm, ist eine deutliche Anfrage an das Christentum und die Gesellschaft heute. Elisabeth hat Christus in den Armen in einem umfassenden Sinn dienen wollen. Das Christentum verliert seine „salzende“ Kraft, wenn es Nächstenliebe nicht mehr so zu motivieren weiß.

Darum gilt von den Heiligen aller Generationen das Jesuswort: „Selig sind die, deren Augen sehen, was ihr seht!“ (Lk 10, 23). Die Heiligen sehen in der Tat alle Wirklichkeit mit neuen Augen. Sie stellen alle Dinge in einen neuen, eben einen österlichen Horizont.

Für uns Christen wird die Wirklichkeit nicht verzaubert. Die Realitäten behalten ihre Widerständigkeit. Wir werden als Christen nicht dem Leid und dem Schmerz enthoben. Uns werden auch keine heroischen Tugendkräfte verliehen, die uns zu Helden einer besonderen, herausragenden Moralität machen. Man könnte sagen: Wir Christen sind nicht besser (als andere), aber wir haben es besser!

Was uns Christen geschenkt ist, ist diese „Beleuchtung“ aller Wirklichkeit, die vom Osterlicht her kommt. Vielleicht erklärt das die tiefe Freude der Hl. Elisabeth, die Zeitgenossen von ihr bezeugen. Sie hat diese Freude zu ihrem Lebensprogramm gemacht, wie ihr Wort offenbart: „Wir sollen die Menschen froh machen!“ Selbst in Leid und Trauer ist diese Freude nicht von ihr gewichen. Hier erfährt sich jemand in einer Liebe geborgen, die unerschütterlich ist, nicht aufzuheben durch irdische „Todeszeichen“. Den Tod vor Augen sagte sie: „Ich habe einen kleinen Vogel singen gehört. Da muss auch ich singen.“

Die Botschaft des anbrechenden Elisabeth-Gedenkjahres, die wir offenen Herzens hören und aufnehmen sollen, heißt: Wer selbstlos liebt, berührt Gott, wird mit ihm „eines Sinnes“.
Das bedeutet zum einen etwas sehr Tröstliches: Es gibt auch heute über die aktiven Kirchenmitglieder hinaus viele „Gottesfürchtige“. So manche Menschen in unseren Ländern Thüringen und Hessen, die mit Kirche nichts oder nichts mehr anfangen können, sind dennoch Gott nahe – eben, weil sie in der Art der Hl. Elisabeth und ihres Verhaltens an manchen Stellen ihres persönlichen und beruflichen Lebens Menschen selbstlos dienen, und darin unbewusst Christus ähnlich werden.

Zum anderen: Unser eigener Gottesglaube braucht die Konkretion der „Fußwaschung“ am Mitmenschen. Jeder hat dazu allerlei Gelegenheiten. Besonders wichtig sind jene Dienste, die sich nicht weltlich auszahlen. Es muss in unserem Leben Handlungsweisen geben, die im Sinne der Welt „töricht“ sind, sich nur vom Osterlicht her erklären lassen. Ein Christ, der in diesem Sinne noch nichts Befremdliches getan hat, muss sich fragen lassen, ob er überhaupt auf dem Weg Jesu Christi geht.

Das Gedenken an Elisabeth soll uns veranlassen, mit ihren Augen auf unsere Zeit und ihre Nöte zu schauen. In Kurzform: Die beste Form des Gedenkens an die Hl. Elisabeth ist das genaue Hinschauen.
Unsere Zeit hat andere Nöte und Herausforderungen als jene des mittelalterlichen Feudalstaates, in dem Elisabeth zur Hocharistokratie gehörte. Was Elisabeth von ihren Standesgenossen unterschied, war ihre Bereitschaft, angesichts des Elends ihrer Zeit nicht wegzuschauen. Um genau dieses Anliegen wird es uns auch im Gedenkjahr 2007 gehen: Hinschauen, möglichst genau und konkret. Es gilt, die Nöte unserer Zeit beim Namen zu nennen. Dazu wollen wir uns sensibilisieren lassen, in den Pfarrgemeinden, in unseren katholischen Verbänden und Gemeinschaften, aber auch in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt in der Beurteilung politischer Sachverhalte.

Aus dem Hinschauen soll und muss ein Handeln werden. Das kann in vielen Fällen nur zeichenhaft und beispielhaft sein, aber es wird nicht ohne Wirkung bleiben. Unsere Gesellschaft braucht mehr als Gerechtigkeit, so notwendig diese auch ist. Auf dem Fundament der Gerechtigkeit braucht unser gesellschaftliches Haus auch Barmherzigkeit und Solidarität für jene, die allein nicht mit dem Leben zurechtkommen. Gerade im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen gilt es, der gesellschaftlich anzutreffenden Kälte zu widerstehen und Räume zu bewahren und auszubauen, in denen der Mensch Zuwendung und Wärme empfangen kann.

Elisabeth hat bekanntlich nicht Wert gelegt auf weltlichen Beifall für ihr Verhalten. Sie hat sich angeschaut gewusst. Nicht nur allgemein von den Menschen, sondern konkret in den Bedürftigen ihrer Zeit hat sie sich von Gott selbst fragend und bittend angeschaut gewusst. Ob das nicht das Geheimnis der Heiligen überhaupt ist? Sie wussten sich je „angeschaut“ vom Himmel her. Wenn wir die Heiligen ehren, ehren wir nicht nur tugendhafte Menschen, sondern rühmen die dynamische Kraft Gottes, die Biographien verwandeln kann. Darum ist die Verehrung der Heiligen für uns katholische Christen ein Lobpreis der Gnade Gottes.

Fulda und Erfurt, am 19. November 2006, dem Festtag der Hl. Elisabeth
+ Heinz Josef Algermissen, + Joachim Wanke"