Donnerstag, 3. August 2006

Immortalitas IV – Die Wiederkehr der Religion oder Antworten auf eine „Kultur der Hinrichtung“

Die destruktive Antwort:
Die verbreitete angestrengte und angstbesetzte Art, maßlose Sehnsucht in mäßiger Zeit zu stillen, scheint immer mehr Menschen zu vielfältigen Formen der Flucht zu bewegen. Escapismus ist der wissenschaftlich Fachausdruck dafür. Das Ziel ist dabei immer das Gleiche: der grauen Unerträglichkeit und angestrengten Banalität des vorfindbaren Alltagslebens zu entrinnen.

Schon vor Jahrzehnten schrieb der Psychotherapeut Rudolf Affemann unter dem Titel „Krank an der Gesellschaft“ eine knappe Analyse, in der er die Fluchtmöglichkeiten aufzählte:

• Ein Fluchtweg führt in das gespielte Leben, in das Schauspiel, das einen einfängt, in Filmen, im Fernsehen, in Traumschiff oder Schwarzwaldklinik.

• Möglich ist es aber auch, das Alltagsleben einfach abzublenden. Dazu helfen Alkohol, noch mehr die Flucht in das erlebnisdichte Paradies der Drogen.

• Andere werden psychosomatisch krank. Das ist eine der gesellschaftlich am meisten honorierten und auch akzeptierten Formen der Flucht

• Auch der Weg in manch eine Sekte fällt unter die Fluchten. Sekten so besehen sind Sonderwelten, alternativ zur bestehenden Welt, mit strengen Ordnungen und Autoritäten, die es den Mitgliedern gestattet, die angesichts der enormen Unübersichtlichkeit des Lebens die lästig werdende Last der riskanten Freiheit los zu werden.

• Schließlich gehört auch der Selbstmord zu diesen Formen der Flucht aus der grauen Unerträglichkeit. Der Wiener Psychotherapeut Erwin Ringel beschreibt den Weg in den Selbstmord als ein immer enger Werden der erfahrenen Lebenswelt. Enge und Angst spielen ineinander. Der Selbstmord ist dann der letzte rettenden Sprung in eine neue Weite.

Sollten jene Recht haben, welche unserer modernen Kultur eine Art „präsuizidales Syndrom“ zueignen: Weil es eben eine pur diesseitige Welt ist, mit neunzig oder etwas mehr Lebensjahren – eine Zeitspanne und ein Lebensraum, indem allein Leben stattzufinden scheint?

Die kreative Antwort:
Es gibt neben der Flucht auch den Aufstand. Dieser hat inzwischen auch in der Forschung einen Namen bekommen und heißt „Respiritualisierung“ oder auch „Wiederkehr der Religion“.

Es ist ein Aufstand gegen die Banalität eines unerträglich werdenden flachen, eindimensionalen Lebens. Es ist der Aufstand gegen das ständige Kleingemachtwerden, die vielen alltäglichen abwertenden Hinrichtungen. Dazu kommt, dass Menschen aufbegehren gegen den subtilen Zugriff des Menschen auf den Menschen. Da schreiben High-tech-Mediziner vor, was ein gesunder Mensch ist und setzen die gesamte Technokratie ein, um die Schöpfung neu zu designen. Modernes Wirtschaften wiederum verfolgt das Wachsen der shareholder values, ohne Rücksicht auf die am Wirtschaften beteiligten Menschen. Die moderne Verwaltung wiederum vermag den Menschen über Microchips bis in seine genetischen Strukturen screenen und sein alltägliches Leben bis in die letzten Winkeln aushorchen und verfolgen. Was ist der Mensch? Klonbare Biomasse, ein genetisch zu verbessernder Zellhaufen? Weniger Wert als das Kapital? Ein verplanbarer Fall? Respiritualisierung kann der Protest gegen solche Erniedrigungen und Verwertungen des Menschen sein.

Damit stehen wir schon vor einer Schlüsselfrage, in der die Forschung noch kaum ausreichende Erkenntnisse besitzt. Immerhin gibt es brauchbare Anhaltspunkte. Es ist die Frage, was sich da im Zuge der Respiritualisierung ereignet? Es geht um eine Phänomenologie dieser neuen Spiritualitäten, die im Kommen sind. Ich versuche einige Punkte herauszugreifen:

Suche nach dem Ich: Moderne Menschen sind dabei, ihre Mitte, ihr Ich zu verlieren. Sie sind buchstäblich außer sich, geschleudert an die Peripherie des Lebensrades. Respiritualisierung dagegen ist die Suche nach dem eigenen Ich, nach der Mitte, nach der Berührung mit der eigenen Tiefe. Es ist der Exodus ins Ego, wie der Psychotherapeut Hans-Willi Weis, der die spirituelle Szene aus eigener Erfahrung kennt, diese Suche nach dem Ich bezeichnet hat. Das Ich zu entdecken, das meint zugleich die eigene Würde und Selbstvertrauen wiederzugewinnen, und das entgegen alle kulturell so gängigen Abwertungen und psychische Hinrichtungen. Der Weg führt die Suchenden in unterschiedliche Tiefen. Die einen landen selbstzufrieden bei sich selbst, andere hingegen graben weiter und finden in sich Urbilder, lernen sich als Gottes Gedanken verstehen und erleben darin eine Würde, die ihnen niemand mehr nehmen kann. Noch mehr: Sie gewinnen dadurch eine Unangreifbarkeit gegen alle versuchten Zugriffe von Menschen auf den Menschen. Sie erleben sich nämlich einig rückbezogen auf Gott (was eine der etymologischen Bedeutungen von Religion ist) und weigern sich daher, sich irgend etwas auf der Welt zu unterwerfen. Es muss hier in Erinnerung gerufen werden, dass dies der Grund ist, warum die Religion immer schon die letzten Feinde totalitärer Systeme waren. Denn religiöse Menschen verweigern den totalen Zugriff weltlicher Mächte (in der Politik, in der Wirtschaft, im Konsum). Gerade das vermeintlich Unpolitischste, nämlich die Religion, erweist sich an dieser Stelle als politisch hochbrisant. „Totalitär“ sind auch andere Systeme: der Konsum, die Kultur des Habenmüssens, die Kultur der Hinrichtung.

Suche nach Verwebung und Vernetzung: Moderne Kulturen vereinzeln den Menschen. Die positive Seite ist die Wertschätzung von Individualität und Freiheit. Die Schattenseite dagegen Vereinsamung, Vereinzelung und psychische Obdachlosigkeit. Im Zuge der Respiritualisierung suchen Menschen nach neuen Verwebungen und Vernetzungen. Solche finden sich in ganz unterschiedlicher Weise. Manche erleben sich als eins mit dem Kosmos, andere greifen auf alte mystische Traditionen zurück und erleben sich als ein Teil des Göttlichen, des Ganzen, des Ursprungs und des Anfangs. Erlebbar werden solche kosmische und mystische Verwebungen durch den Eintritt in unterstützende Gemeinschaften, in denen nicht nur die Würde, sondern eine tiefe Zusammengehörigkeit aller eine zentrale Erfahrung sind.

Suche nach einer Ethik umfassender Liebe: In vielen Feldern modernen Lebens, in Beziehungen, in Büros, in der Freizeit herrscht oftmals ein Lebensstil, der nicht aufbaut. Er ist geboren aus Mangel an eigenem Selbstwert, der sich durch Überheblichkeit über andere und durch das Kleinmachen, ja Niedermachen der anderen überkompensiert. Was dabei auf der Strecke bleiben ist der Respekt vor dem anderen, ist Solidarität mit dem anderen, ist letztlich die Liebe. Die Kultur der „Hinrichtung“ hat wenig Vorrat an solidarischer Liebe untereinander. Die Menschen fühlen, wie sie selbst von solch einem zerstörerischen Lebensstil erfasst sind. Sie merken zugleich, wie sie selbst Opfer solcher abwertender Demütigungen werden. Gegenseitig wertschätzende, fördernde und daher aufbauende Synergien sind in Gemeinschaften und Arbeitsbeziehungen selten geworden. Dagegen begehren aber jene auf, die sich auf eine spirituelle Suche gemacht haben. Sie suchen nach einer neuen Ethik, einer Ethik umfassender Liebe, die aufrichtet und nicht hinrichtet. Umfassend meint: zu den anderen, zu sich, zur Schöpfung, zu Gott. Solche Liebe, so fühlen sie, ist lediglich die Handlungsseite ihres Seins. Weil sie von ihrer Herkunft sich dem liebenden Anfang, den sie Gott nennen, verdanken, tragen sie auch die Möglichkeit in sich, wie Gott Liebende zu sein oder zu werden. Es gibt heute viele Verantwortliche, die sich fragen, wie Menschen auf solch einer spirituellen Suche mit neuer Qualität Unterstützung gegeben werden kann. Diese Frage stellen sich heute keineswegs mehr die alten christlichen Kirchen allein. Die Bereitschaft, spirituell Suchende zu stützen, ist in vielen alten und neue religiösen Bewegungen und Gruppen anzutreffen.

Dabei ist schon mitgesagt, dass nicht alles, was heute in spiritueller Unterstützung auf dem „religiösen Markt“ anzutreffen ist, wahr, gut und deshalb heilsam ist: Denn nur die Wahrheit wird uns frei machen (Gal 5,1). Die alte Lehre der Unterscheidung der Geister bekommt ein neues Gewicht. Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet wird. Manche meinen ja, dass das, was sich da an neuer Spiritualität ankündigt, von Haus aus des Teufels und theologisch verwerflich ist. Dagegen ist es meine Position, dass jede spirituelle Suche als Moment eines ernsthaften Menschen Respekt verdient. Das Suchen ist vielleicht die stärkste Form des Wirkens Gottes in einem Menschen. Nur wer sich bewegt, kann sich auch auf Gott hin bewegen, genauer: kann sich von Gott selbst auf Gott als seinen Ursprung und seine Quelle hinbewegen lassen. Dann kann durchaus weiter gefragt werden, ob der jeweils ein- bzw. vorgeschlagene Weg der beste oder der richtige ist. Spiritualitätskritik wird zu einem Teil moderner Religionskritik, um die auch die heute stattfindende Respiritualisierung nicht herumkommt: Und das zu ihrem eigenen Wohl, wie ich betone. Denn nichts schadet spirituell Suchenden mehr, als wenn ihnen ein Weg gewiesen wird, der nicht ans Ziel ihrer Sehnsucht führt.

(Quelle: Prof. Dr. Paul M. Zulehner: Megatrend Religion - Kehrt die Religion wieder?)

2 Kommentare:

Diego hat gesagt…

1. wie du schon bemerkt hast, verfolge ich deine derzeitigen Beiträge mit größtem Interesse; da hast Du extrem heiße Eisen afgegriffen- alle Achtung.

2. Zum Phänomen "Respiritualisierung":
es ist für sich genommen nichts neues unter der Sonne. Die römische Kultur kannte in ihrer Krisenzeit einen ähnlich blühenden "Markt der Religionen"; interessant ist, dass die Christen in jener Zeit ihrer "spirituellen Umwelt" als "Atheisten" galten, weil sie fest an dem historischen Christusereignis als einzigem Bezugspunkt ihrer Hoffnung festhielten und sich daher von allen anderen "spirituellen Erfahrungen" und natürlich von der offiziellen Religion und dem Kaiserkult-wie bekannt-strikt fern hielten.
Die Schwierigkeiten im Dialog zwischen den "modernen" spitrituellen Erscheinungen und den Christen heute liegen gerade auch hier:
unser einzig gültiger Bezug bleibt die reale Person Jesus von Nazareth, dem in die menschliche Geschichte eingetretenen Sohn Gottes. Das Christentum ist daher eine durch und durch realistische Religion und damit per se der Kontrapunkt schlechthin zu allen nebulosen religiösen Vorstellungen; m.a.W.zu seinem Wesen gehört es, gerade auf dem Jahrmarkt der Religionen von heute das Zeichen des Widerspruchs und der Stein des Anstoßes zu sein.

Anonym hat gesagt…
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